Aram Mattioli - Verlorene Welten

Aram Mattioli – Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas.

Verlorene Welten. Eines der interessanten Geschichtsbücher der letzten Jahre. Und ein Lehrstück über Ignoranz und Gier, die zu Hass und Blindheitführt. Wobei der Titel des Buches zu weit greift: Es handelt sich um eineGeschichte der Verfolgung und Vernichtung der „First People“ Nordamerikas,nicht um ihre gesamte Geschichte.

Verlorene Welten

Sicher eines der meistbesprochenen Geschichtsbücher der letzten Zeit, sodass sicher schon alles gesagt ist. Mich hat das Buch stummgemacht. Stumm angesichts von so viel unverfrorener Gier. Das US-amerikanische Projekt: So hat es funktioniert. Hier wird die Grundlage der Erfolgsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika aufgeschlüsselt: Nur weil die rechtmäßigen Besitzer des Landes mit Lug und Trug und falschen Versprechungen und immer wieder gebrochenen Verträgen ihres Landes beraubt wurden, konnte die Besiedlung des Kontinents durch die Europäer überhaupt stattfinden. Denn das unterscheidet Nordamerika ja von Mittel- und Südamerika: Eine „weiße“ Bevölkerung. Die Ureinwohner, von Krankheiten dezimiert (im Wortsinne), ihrer Lebensgrundlage beraubt, konnten nur unterliegen; die ganze Brutalität ihrer Vertreibung hätte es gar nicht gebraucht. Doch die Gier war größer als die Geduld. Meine Güte.

„Täterforschung“ und Propaganda

Mattioli scheut sich nicht, Ross und Reiter klar und eindeutig zu benennen. Das ist ungewöhnlich; normalerweise flüchten Historiker sonst in Ausweichfloskeln, wenn staatlich organisierte Verbrecher als solche zu bezeichnen sind. Wobei Mattioli auch die Frage klärt, ob es sich hier um einen Genozid gehandelt hat, oder auch um einen Ethnozid – ersteres bedingt (partiell sicher), letzteres nach 1900 bis 1934 ja. Wer sich mit der Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner beschäftigt hat (ich nicht), für den beinhaltet das Buch vielleicht wenig Neues, für den ist dann die Zusammenstellung und die Klarheit der Aussage interessant. Jemandem wie mir führt es erneut vor Augen, wie man Geschehnisse, die eigentlich augenfällig sind, geradezu „vergessen“kann. „Übersehen“ kann. Was Jones in seinem Werk über die Revolution 1918/19 für Deutschland exemplifizierte, tut Mattioli (insbesondere im letzten Kapitel) für die indianischen Nationen in den heutigen USA. Er holt sie wieder ans Licht, er zeigt, wo sie geblieben sind, und er zeigt, wie ein gewisses Bild von den „red indians“ entstanden ist und wie es gewirkt hat.

Der Indianer, das unbekannte Wesen

Das Bild ist zu revidieren. Der Indianer, dessen Gestalt wir zu kennen meinten, der so fest zum Personal aller Western gehörte (seien es Filme, Bücher oder Kinderspiele), er muss neu beschrieben werden. Seine Geschichte, in erster Linie. Wobei „Geschichte“ hier nicht im europäischen Sinne verstanden werden kann (Kenntnisse hierüber sind bei nicht-schriftlichen Kulturen nur schwer zu erlangen), hier ist die Kulturgeschichte gefragt. Eine Würdigung, die Wiederherstellung der bloßen Menschenwürde, ja, und gerade auch der Menschenrechte, ist hier gefragt.

Die rassistische Grundlage der Kultur des Westens

Denn das ist der zweite große Punkt von Mattioli. Er legt dar und belegt umfangreich, dass das US-amerikanische Projekt immer zwei Seiten hatte, dass es eine rassistische Grundlage hatte. Die Grundrechte, die Verfassung der Vereinigten Staaten galt eben nur für die „weißen“ Einwanderer. Die Ureinwohner konnte man meist straflos berauben, quälen und auch töten. Das gerät allzu leicht außer Sicht. Der Erfolg der USA, der Aufstieg der Vereinigten Staaten basiert auf dem Untergang der rechtmäßigen Besitzer ihres Landes.

Die rassistische Abwertung, das zeigt Mattioli zuletzt (schlagend anhand der US-Weltausstellungen), traf allerdings alle Völker und Kulturen außerhalb Westeuropas. Und die USA, die rebellische Siedlerkolonie, die sich aus der Fremdherrschaft befreite und allen Menschen gleiche Rechte zusprach – sie tat das nicht nur nicht für ihre Sklaven bzw. ihre schwarzafrikanischen Mitbürger, sondern auch für die Ureinwohner nicht, die sie dezimiert, verdrängt und ausgeraubt hatte, und dies in einer Kontinuität, die bis in die Gegenwart reicht. So konnte die Siedlerkolonie zur Kolonialmacht aufsteigen, ohne dass ihr Selbstbild einen Bruch erfahren musste.

Aram Mattioli – Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700-1910. Stuttgart: Klett-Cotta, 2017. 464 Seiten. ISBN978-3-608-94914-8

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Klaus Berndl

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