Robert Gerwarth – Die Besiegten

Die Besiegten von Robert Gerwarth

Robert Gerwarth – Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs.

Geschichtsschreibung, besser geschrieben als mancher Roman. Kein Wunder, dass das Buch zum (Spiegel-)Bestseller wurde. Dabei liefert es für deutsche Leser eigentlich nichts Neues – vieles las man schon woanders – neu ist nur die Zusammenstellung in einem Werk. Der Hauptreiz, den das Buch (zuerst auf Englisch erschienen) für die angelsächsische Welt hatte, also der Wechsel zur Perspektive der Besiegten, entfällt hierzulande logischerweise. Dafür der Blick auf Europa als Ganzes für den Zeitraum 1917-1923.

Die Besiegten von Robert Gerwarth
Die Besiegten von Robert Gerwarth

Wie der Weltkrieg beendet wurde

Das erste Viertel des Buches wagt einen Abriss der Jahre 1917 bis 1918 aus der Perspektive der Achsenmächte – selten hat man wohl die Geschichte der Endphase des Ersten Weltkriegs ähnlich klar strukturiert gelesen. Thematisch ein Drittel des Buches, ist es doch nur Vorgeschichte für das Kommende. Natürlich kann Gerwarth dabei an keiner Stelle sehr ins Detail gehen – den Sturz des Deutschen Kaisers beschreibt Lothar Machtan etwa in seinen Spezialuntersuchungen ganz anders – das Ziel, einen soliden Überblick zu geben, wird trotzdem erreicht.

Versailles

Dies geht fließend in eine Beschreibung der Konflikte in Europa über – die Schwerpunkte liegen bei Deutschland, Polen, der Sowjetunion, den Balkanländern und dem osmanischen Reich / der Türkei. Dies alles sind Überblicksdarstellung, und deshalb bleiben durchaus auch Fragen offen. Beispiele: Bekannt sind hierzulande die Auseinandersetzungen um die Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag. Gerwarth schreibt (behauptet?), es hätte zeitgenössische deutsche Finanzexperten gegeben, die die Forderungen der Alliierten keineswegs für überzogen hielten, sondern für machbar, dies jedoch nie öffentlich gesagt hätten (S. 259). Als Nachweis hierfür leider nur der pauschale Hinweis auf weitere Literatur, sogar ohne Seitenangaben – keine Namen, keine Aussagen (Anm. 124); so verfährt er leider auch an anderen Stellen. Wobei in diesem Fall zu fragen ist, was es für eine Bedeutung hat, wenn ein (oder zwei?) Finanzexperten eine Meinung vertreten haben, die seinerzeit niemand sonst in Deutschland vertreten hat. (Ähnliches bei Japan/Korea/China, was aber sowieso nur kursorisch behandelt wird.) Gerwarth wertet hier auch MacMillans Arbeit über die „Friedensmacher“ aus; ein Werk, das in seiner eigenen Weise problematisch ist. Der Kriegsschuldparagraph wird dort als rechtliche Basis für die Reparationsforderung eingeführt, und man habe ihn außerdem aus Rücksicht auf die eigene Bevölkerung aufnehmen müssen. Die Reaktion der Deutschen hat man anscheinend nicht in die Konzeptionen des Friedensvertrages einbezogen, was aber vital gewesen wäre, wenn ein Friedensvertrag wirklich Frieden bringen soll. Dieser Tadel trifft natürlich die Zeitgenossen, nicht die Historiker/-innen. Von ihnen erwartet man an solchen Stellen Distanzierungskraft bzw./und Hinterfragung. Das ist hier nicht so wirklich zu erkennen.

Revolution 1918/19 in Deutschland

Weitere Punkte. Der Abriss über die deutsche Revolution von 1918/19 folgt der älteren Darstellung von Heinrich-August Winkler. Sie ist mit Mark Jones´ Am Anfang war Gewalt eigentlich überholt. Dessen Dissertation von 2011 taucht in Gerwarths Literaturverzeichnis auf – das darauf basierende Werk nicht. Das verwundert etwas; die übliche Sichtweise auf die Revolution kann so eigentlich keinen Bestand mehr haben.

Und Lenin?

Was ich vermisst habe, waren Ausführungen zu Lenins Nationalitätenpolitik. Die Angst vor dem Bolschewismus ist präsent und motiviert so gut wie jedes Handeln der europäischen „Rechten“. Die „Nationalitätenfrage“ – der Wille, alle Menschen einer Nationszugehörigkeit in einem Staat zu sammeln, sei es durch Eroberung des Territoriums anderer Länder, sei es durch Umsiedlung – ebenfalls. Gerade deshalb irritiert es, dass die „globalen“ Äußerungen Lenins zur Nationenfrage, die zeitlich vor Wilsons 14 Punkten lagen, fehlen: Haben sie nicht erst Wilson zu seinen Punkten veranlasst? Hierüber hätte ich hier gerne nähere Informationen gefunden.

Fazit

Der Wert des Werkes besteht darin, dass es ein Fenster für den Vergleich öffnet – eine gesamteuropäische Perspektive wagt – und damit vieles, was man sonst isoliert in Ländergeschichten liest, wieder in seinen internationalen Zusammenhang einbettet. Bei allen Besiegten waren die Pariser Vorortverträge in der Substanz inakzeptabel, und deshalb ging man sofort nach der Unterschrift daran, sie zu revidieren. Am besten ist das der Türkei gelungen – die anderen Betroffenen waren nicht annähernd so bzw. nur zeitweise darin erfolgreich. Und dieser „Nachkrieg“, diese Folgeauseinandersetzungen, die sich aus den Grenzziehungen der Alliierten ergaben, die sie ohne Zutun der Betroffenen vornahmen, ziehen sich bis in die 90er Jahre (Jugoslawien und dessen Nachfolgestaaten) bzw. bis in die Gegenwart (Nahost).

Das Buch schafft ein Bewusstsein dafür, dass die Pariser Vorortverträge eigentlich alle gescheitert sind, dass die Alliierten zwar gesiegt haben, den Sieg aber im Friedensschluss verloren haben. Das gilt flächendeckend für alle europäischen Länder östlich von Frankreich und Großbritannien und südlich von Skandinavien (außer Finnland). Der Nationalismus trat seinen Siegeszug an, und seine Opfer waren die Nationen: Der Versuch, den Nationen jeweils einen Nationalstaat zu verschaffen und darüber für Frieden zu sorgen, scheiterte nicht nur daran, dass die imperialistischen (und Sicherheits- und anderen) Interessen der Alliierten befriedigt werden mussten, sondern auch daran, dass es eine Illusion war, in Europa Nationalstaaten schaffen zu können. An die Stelle der großen Imperien traten nun kleinere multinationale Staatsgebilde. Und die gingen engagiert daran, ihr neues Territorium zu “nationalisieren”. Damit waren die “Friedens-“Verträge von Paris umgehend erledigt.

Gerwarths “Epochengrenzen” 1917-1923 stehe ich etwas skeptisch gegenüber. Auch, wenn mit/nach 1923 eine gewisse Beruhigung eintrat, wurden die Konflikte doch wenige Jahre später wieder aufgegriffen und bis 1945 fortgeführt. Und einige nach 1989 erneut. Diese “neue” Epoche ist doch etwas länger.

Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. München: Siedler Verlag, 2017. 480 S. ISBN 978-3570553220

Robert Gerwarth: The Vanquished. Why the First World War Failed to End. Penguin, 2016. ISBN 978-0141976372

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Klaus Berndl

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