Jan Costin Wagner – Einer von den Guten. Berlin: Galiani, 2023.
Das Genre, der Stil
Krimis sind meist Serienwerke, sodass die Protagonisten nicht mehr eingeführt werden müssen. So auch hier: Ben Neven ist bekannt, Christian Sandner und Maren Kramer ebenfalls. Da ich die ersten beiden Romane der Reihe nicht kenne, lese ich diesen Roman aber als Einzelwerk. Das funktioniert. Weiter Bände wird es auch nicht geben.
Außer den drei genannten gibt es da noch Nevens Familie und Kramers Katze. Der alte Kommissar Landmann, Nevens Mentor. Der junge Adrian und dessen Freundin Vera. Beschrieben wird keine dieser Personen. Es gibt keine Äußerlichkeiten, auch kaum „Weltenbau“. Der Erzähler folgt in 36 Kapiteln (gruppiert in sechs Teile plus Epilog mit weiteren zwei Kapiteln) jeweils einer Person. Er ist dabei ganz nah dran, bis tief in die Gedanken hinein. Die sind wichtiger als alle Äußerlichkeiten. Das Ganze in kurzen Sätzen und immer im Präsens. Ausschließlich kurze Sätze. So entsteht eine hektische Atmosphäre. Eine Atemlosigkeit. Eine Spannung, ein Sog, gegen den man sich nicht wehren kann.
Gut, man gewöhnt sich daran. Nach einer Weile nervt es – aber gleich darauf nimmt man es nicht mehr wahr. Es muss so sein. Hier geht es um die Gegenwart, und nur die Gegenwart. Der Sog wirkt weiter. Und nebenbei bemerkt man fast gar nicht mehr: Das ist gut geschrieben. Da spreizt kein Autorenpfau sein Gefieder. Das ist stringent und schnörkellos erzählt. Immer an der Sache. Es ist fast schon wohltuend, so etwas zu lesen.
Das Thema
Auch wenn das Thema alles andere als wohltuend ist. Kindesmissbrauch, durch Männer an Jungs. Begangen (unter anderem) durch den Hauptprotagonisten, Kommissar Ben Neven. Er ist ausgerechnet mit Fällen von Kindesmissbrauch beschäftigt, durch Männer an Jungs. An diesen Fällen arbeiten auch seine Kollegen. Ein Verbrechen, bei dem es keine Gnade für die Täter gibt. Bei dem es auch kein Stopp gibt, keine abgeschlossene Tat, nach der der Täter aufhören könnte. Missbrauch, das sind Serientaten, von denen ein Täter wohl gar nicht loskommt. Es bleibt nur Abscheu. Die äußert Neven auch – gegenüber seinen „brothers in crime“, gewissermaßen. Und hat sie selbst verdient. Das weiß er. Und dieser Abscheu prägt dann auch die Lektüre: Man will das nicht weiterlesen. Man kann sich mit diesem Helden, diesem Ben Neven, nicht identifizieren, obwohl einen die Erzählstruktur dazu zwingt. Man will nicht von ihm, von so einem, durch ein Buch geleitet werden. Es tut weh.
Die Adrian-Kapitel, die Szenen aus der Sicht des Jungen, sind da geradezu ein Lichtblick. Ein Aufatmen! Angesichts eines Jungen im Schulalter aus Rumänien, der von seinem Vater nach Deutschland geschickt wurde, um auf den Strich zu gehen. Betreut wird er von Marian Radu, seinem Zuhälter. Das Kind geht nicht zur Schule, es hat keine Zukunft. Hier wird ein Mensch geopfert. Nicht nur den Lüsten, sondern auch der Geldgier anderer.
Endlich, in der Mitte des Buches, versucht Ben Neven, Selbstmord zu begehen. Das wirkt wie eine Erlösung! Doch der Versuch scheitert. Danach bespricht sich Neven mit Landmann, seinem väterlichen Freund, und der schickt ihn in Therapie. Neven nimmt das Angebot an. Damit, nach der Mitte des Buches, kann man sich endlich etwas mit ihm versöhnen. Der Widerwillen reduziert sich ein wenig. Um gleich wieder anzuwachsen, als klar wird, dass Neven von seinen inneren Zwängen nicht loskommt.
Die Leistung
Gut gemacht: Beide, Ben wie Adrian, wollen eigentlich nur das Glück festhalten. Den flüchtigen Augenblick einer Glücksempfindung. Es sind ganz unterschiedliche Glücksmomente. Aber das Leiden darunter, dass man nach dem Schwinden des Glücks abstürzt, ist durchaus vergleichbar.
Gut gemacht: Man ist emotional so gefangen, dass man nicht nur mitempfindet, sondern auch mitleidet. Und trotzdem weiterlesen will. Und gerade deswegen: Es lässt einen nicht los. Das ist eine Leistung!
Schließlich leidet man mit beiden Helden mit, Adrian wie Ben (!), und wünscht ihnen beiden alles Gute. Aber wie können sie sich aus den Situationen befreien, in denen sie stecken? Ben, der pädophile Pädophilenjäger, mit „intakter“ Familie, die er vor sich selbst bzw. vor dem Skandal, den seine Entlarvung bedeuten würde, schützen will? Adrian, der Stricher, allein- und im Stich gelassen von seiner Familie, von seinem Vater verkauft: bloße „Materie“, bloßes „Material“ für andere?
Literatur
Am Ende hat man wirklich etwas erlebt. Gelernt. Das ist es, was die Kraft der Literatur ausmacht: Dass sie einen etwas miterleben lässt, was man sonst womöglich niemals miterleben würde. Und dabei sinkt das Gehirn nicht in den Schlafmodus wie beim Filmeschauen, sondern denkt und fühlt und erlebt aktiv mit. Kein Wunder, dass einen diese Lektüre so sehr „mitnimmt“.
Das ist nicht nur sehr gute, sehr sauber erzählte Krimiliteratur, ungekünstelt und mit überzeitlich relevantem Thema. Das ist Literatur im besten Sinne. Bei Radio 889FM Kultur: Literatur des Monats Oktober 2023.
Jan Costin Wagner – Einer von den Guten. Berlin: Galiani, 2023. 208 Seiten. ISBN 978-3-86971-260-4.