Simone Hirth: Malus. Wien: Kremayr & Scheriau, 2023.
Bei jeder Lektüre spielt es eine Rolle, wer der/die Leser:in ist, denn je nachdem wird die Handlung anders aufgenommen, sind die Protagonisten sympathisch oder unsympathisch etc. Bei „Malus“ von Simone Hirth ist das besonders stark ausgeprägt: Liest man es als (cis-)Mann, ist es durchaus eine Herausforderung. Deshalb möchte ich diese Rezension auch ganz persönlich schreiben – und verstanden wissen.
Evas Vorläuferin: Kassandra
1983, vor 40 Jahren ist Christa Wolfs Erzählung Kassandra erschienen, in dem die mythische Geschichte des trojanischen Krieges ordentlich gegen den Strich gebürstet wird, auf feministische Weise. Das Buch hat mich damals schwer beeindruckt, aber auch empört. Männer so als brutale Tiere und nur als Tiere darzustellen: Ich fühlte mich mitgemeint und damit verletzt und beleidigt, und auch missverstanden darin, dass ich mich immer redlich bemühte, auf die Gleichberechtigung der Frauen zu achten. Kann man alle Männer (so) über einen Kamm scheren? So reduzieren? Kassandra war in dieser Zuspitzung auch eine Vereinfachung. Eine Provokation. Eine Polemik. Eine, die funktionierte.
Will man etwas erreichen, muss man gelegentlich vereinfachen und zuspitzen. Ist das aber 40 Jahre später bei diesem Thema immer noch notwendig? Herrscht hier nicht langsam mal Konsens: Frauen und Männer sind gleichberechtigt (siehe Grundgesetz), also gleichberechtigte menschliche Wesen, mit allen Rechten und Pflichten, Fehlern und Tugenden?
2023 in Wien, Meidling
Damit zum Thema. 2023 erzählt Simone Hirth einen anderen Mythos, die Geschichte von Adam und Eva aus der Tora bzw. der Bibel. Sie erzählt ihn nicht nach, sondern sie führt ihn fort: Die Frau, die Gott nur zur Unterhaltung von Adam geschaffen hat, stellt nervig viele Fragen, verspeist körbeweise Äpfel (freiwillig, ohne Schlangenverführung), und sie wird nicht etwa aus dem Paradies vertrieben, sondern sie verlässt ihren Ehemann aus freiem Willen. Auch noch schwanger. Damit beendet sie eine Missbrauchsbeziehung: Adam bediente sich ihrer eben, wie er gerade Lust hatte, ohne jegliche Rücksicht auf sie, ja, ohne sie als Person mit einem eigenständigen Willen überhaupt wahrzunehmen. Diese Vorgeschichte schält sich im Laufe der Erzählung langsam heraus.
Eva landet im Wiener Arbeiterbezirk Meidling, im Jahr 2023. Sie lernt die Bibliothekarin Magdalena kennen, die Ex-Geliebte von Jesus, die ihr mit (natürlich feministischer) Literatur mental auf die Beine hilft, die ihr aber auch eine Frauenärztin verschafft, Johanna (… von Orleans?), hinter der man die Scheiterhaufen knistern hört. Adam wird unterdessen aggressiv, fordert sie wie ein Möbelstück zurück und insbesondere das Kind, „sein“ Kind. Er kümmert sich zwar nicht um Mutter und Kind, fordert letzteres aber ultimativ ein: Er droht mit Evas Ermordung, sollte das Kind nicht gesund auf die Welt kommen. Eva erstattet Strafanzeige – schon bei deren Aufnahme durch den Polizisten (m) ahnt man, dass das im Sande verlaufen wird. Parallel läuft der Scheidungsprozess an. Die Schreiben von Adams Anwalt sind an Bösartigkeit schwer zu übertreffen. Und Gott – Gesetzgeber und Richter in einer Person – hat Adam ebenfalls auf seiner Seite. Die Ausgangslage könnte für Eva ungünstiger nicht sein.
Die toxischen Grundlagen unseres Alltags
Das alles wirkt überspitzt und überzogen, ist aber realistisch. Hier geht es um die Grundlagen unserer Kultur und damit um die Basis unseres Alltags. Natürlich beschreibt das nicht den vollständigen heutigen Alltag, nicht alle zwischenmenschlich-zweigeschlechtlichen Beziehungen. Denn natürlich könnte die Geschichte auch ganz anders ablaufen. Es ist ein anderer Adam denkbar, und (heutzutage) auch ein anderer Gott. Es kann auch alles ganz anders laufen. Trotzdem ist es richtig, dies genau so zu erzählen. Denn hier wird der Kern der biblischen Adam-Eva-Geschichte herausgeschält, in seiner ganzen frauenverachtenden und -feindlichen Pracht. Die Struktur wird offengelegt, und die ist es, die den Frauen keine Rechte und keine Luft zum Atmen lässt. Man muss sich das bewusst machen, dass, wenn die Tora/Bibel als Basis einer Gesellschaftsordnung dient, dies im Kern immer mit dabei ist. Und das hat Folgen für den Alltag! Das wird anhand einer Scheidungs- und Ehekriegs- und Sorgerechtserzählung exemplifiziert.
Ein Exempel wird statuiert: Eva steht nicht für eine spezielle Frau – keine der Protagonistinnen hat hier eine ausgeprägte Individualität – und Adam ist auch eher „Der Mann an sich“ als eine Persönlichkeit mit Ecken, Kanten und Verschrobenheiten. Da man sich auch als Leser:in mit der Protagonistin solidarisiert, ist MAN einigermaßen schockiert, wie hier die Männer dargestellt werden: Bin ich auch so schlimm? Also, ich habe noch keine Frau mit dem Tode bedroht … ja, aber genug andere tun es; der Frauenmord ist Alltag: 311 Morde/Totschlage in Deutschland 2021, dazu 535 Mordversuche. Sind 2,3 pro Tag. PRO TAG. (Der Mord an Männern ist hier und jetzt nicht Thema.) Diese Statistik allein rechtfertigt dieses Buch und darüber hinaus jede Polemik. Das sind unerträgliche Zustände.
Das Exempel im Alltag
Dahinter treten die Äußerlichkeiten, die speziellen Leidenschaft, Ticks, Laster der Hauptprotagonisten etwas zurück. Dabei ist die Parabel ganz in Meidling in der Gegenwart angesiedelt (und im Präsens erzählt): im alltäglichen Alltag eines kleinbürgerlichen Wiener Viertels. Und dessen Orte und Verhältnisse werden mit beeindruckender Detailgenauigkeit geschildert. Auf diese Weise werden auch Nebenfiguren wie der boshafte Frauenarzt Dr. Leitner mit seinem bornierten Deutschenhass zur einprägsamen Figur, ebenso wie der Polizist, der Evas Anzeige zwar aufnimmt, sonst aber garantiert nichts für sie tun wird.
Kassandra und Eva
Die Zuspitzung hatte bei Christa Wolfs Parabel zur Folge, dass z. B. die wunderbare Liebesgeschichte von Achilles und Patroklos gar nicht vorkam. Natürlich hätte Christa Wolf 1983 von der Normalität der Homosexualität wissen können (Abschaffung der Strafbarkeit in der DDR 1957/1968) – aber zugegebenermaßen hätte diese Liebe auch ihre Deutung des Mythos bzw. der Männer gesprengt. Trotzdem gab es auch damals schon viel Widerspruch gegen die toxische Männlichkeit, die sie in Reinkultur vorgeführt hat, und gegen so ein Männerbild.
2023, vierzig Jahre später, ist die Welt immer noch heteronormativ geprägt. Inzwischen gibt es aber, bei Simone Hirth, auch einen Lichtblick, ein einzelnes Fünkchen Hoffnung, einen Paul, der sich der toxischen Männlichkeit ebenso verweigert wie Eva. Paul? War es ist nicht der Apostel Paulus, der so viel Frauenhass in die christliche Überlieferung gebracht hat? Egal; zur Ehrenrettung dieses Namens ist hier und jetzt jedenfalls der Paul ein Lichtblick. Adam und Gott sind es nicht, weiß Gott nicht.
Malus: Ein starkes Buch; ein Buch, das man nicht vergisst. Literatur des Monats Oktober bei 889FM Kultur.
Simone Hirth: Malus. Wien: Kremayr & Scheriau, 2023. 176 S. ISBN 978-3-218-01410-6